Vorreiter
↗ | 04-005-1003-R.VL01 Vorlesung „Translatologie B-Sprache“ und 04-005-1034-R.VL01 Vorlesung „Linguistik des Russischen II“, jeweils 2. Semester |
Geschichte des Terminus
Reiners (1944) verwendet für kataphorische Teilsätze (die Sache ist die ...) zunächst den Ausdruck Vorreitersätze. Liebsch (1962) entwickelt die Darstellungen von Reiners (1944) für Wörter und kleine Wortgruppen weiter und prägt den Terminus Vorreiterwort. Diesen Ausdruck greifen Krahl / Kurz (1975) auf:
1. Ironisch-bildhafte Bezeichnung für Bezugswörter und -fügungen, die den semantisch wichtigeren Begriff syntaktisch unterordnen. Vorreiter sind ursprünglich sinnvolle, dann aber meist schablonisierte Wörter und Fügungen wie Sache des/der, Problem des/der, aus den Reihen der (= 'aus der'), im Zuge des (= 'beim'), im Interesse der (= 'für die'), in der Zeit des (= 'während'), auf den Seiten der (= 'in der'). Neben solchen floskelhaft gewordenen Wortkomplexen kann auch jede Wortgruppe als Vorreiter bezeichnet werden, bei der die Aussage allein im formal abhängigen Satzteil, dem Attribut, vollzogen wird, z. B. in der folgenden Formulierung: die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone fordern (= 'eine atomwaffenfreie Zone fordern'); alle Kraft im Dienste der Verwirklichung der Beschlüsse zur Durchführung des (= 'alle Kraft für den'). Derartige Fügungen waren oft Gegenstand satirisch überspitzter Sprachglossen, so daß in bedeutenden Publikationen und Publikationsorganen diese Unsitte kaum mehr zu finden ist. Bei der Vorreiter-Konstruktion handelt es sich um einen Widerspruch zwischen Inhalt und Form, indem die Begrifflich dominierenden Vorstellungen grammatisch – möglicherweise sogar mehrfach – untergeordnet sind.
2. Bezeichnung für rhetorische Floskeln, Satzteile und Sätze, die keine inhaltliche Bedeutung haben, günstigenfalls die eigentliche Äußerung ("zur Sache") vorbereiten, z. B. ich würde meinen; man könnte sagen; meiner Meinung nach – wenn ich das so sagen darf – könnte man ...
Schmidt (1982) schließlich beschreibt den Vorreiter-Begriff – konkret das, was Liebsch (1962) den prädikativen Vorreiter nennt – speziell für das Russische und legt damit den Grundstein für unsere heutige Verwendung des Terminus Vorreiter im Sprachkontakt Russisch-Deutsch.
Begriffserklärung: prädikativer Vorreiter
Der prädikative Vorreiter entsteht durch stilisierende Umwandlung einer Kopula in eine Genitiv-Beziehung ✎ die Strafe des Räderns (das Rädern ist eine Strafe) ✎ операция по замене митрального клапана (der Mitralklappenersatz ist eine Operation).
Mit dem Terminus Vorreiter bezeichnen wir nomina regens in einer Genitivverbindung oder Appositionen, im Russischen auch Partizipien, die selbst semantisch schwach oder gar funktionslos sind ✎ die Stadt Berlin ✎ der Fluch der Begabung ✎ die Strafe der Verbannung.
Begriffserklärung: präpositionaler Vorreiter
Substantive mit präpositionaler Funktion nennt Liebsch (1962) präpositionale Vorreiter ✎ общество, учрежденное в соответствии с законодательством Российской Федерации – ein Gesellschaft nach russischem Recht ✎ im Dienste der Menschheit (für die Menschheit) ✎ in der Zeit des Krieges (während des Krieges) ✎ В целях настоящих Условий термин «Варшавская конвенция» означает … – Im vorliegenden Vertrag bedeutet der Terminus „Warschauer Abkommen“ …
Vorreiter im Sprachkontakt Russisch-Deutsch
In der Arbeitsrichtung ru-de werden wir oft die Erfahrung machen, dass im Russischen phraseologisch bzw. prosodisch durchaus sinnvolle Wörter für das Verstehen entbehrlich sind und im Deutschen stören oder als Präposition wiedergegeben werden wollen.
- работа процесса сжатия компрессора – Verdichtungsarbeit des Kompressors
- В связи с сокращением на Земле запасов традиционного топлива (нефти, газа, угля и т.п.) перед человечеством остро стоит проблема поиска альтернативных источников энергии. – Der Vorrat an fossilen Rohstoffen wie Öl, Gas und Kohle auf der Erde ist begrenzt, weshalb der Mensch sich bald auf alternative Energien wird besinnen müssen.
Vorreiter als Stilmittel
Vorreiter haben im Deutschen als Stilmittel oder als Erklärungszusätze eine Daseinsberechtigung. Gebräuchlicher noch als im Deutschen sind Vorreiter aber im Russischen, wo sie mitunter inflationär verwendet werden ✎ дело чего-л. ✎ проблема чего-л. ✎ вопрос чего-л. / о чем-л.
Unreflektiert übernommen, lassen solche Vorreiter den deutschen Satz sperrig erscheinen – dann Eliminierung ✎ с большой долей вероятности → mit großer Wahrscheinlichkeit ✎ ископаемый вид топлива → fossiler Brennstoff ✎ у этого человека есть чувство юмора → der Mensch hat Humor ✎ глубина отверстия варьируется в диапазоне от 90 до 200 метров → die Teuftiefe schwankt zwischen 90 und 200 Metern.
Literatur zum Thema Vorreiter
Krahl, Siegfried / Kurz, Josef (1975): Kleines Wörterbuch der Stilkunde. Leipzig: VEB Bibliographisches Institut.
Liebsch, Helmut (1962): „Besser und verständlicher durch stilistische Umformung“. Sprachpflege 10, 205-207.
Reiners, Ludwig (1944): Deutsche Stilkunst: ein Lehrbuch deutscher Prosa. München: Beck.
Schmidt, Heide (1982): Zur Beschreibung der Äquivalenzbeziehungen bei Kompressionen in Übersetzungen aus dem Russischen ins Deutsche. Dissertation. Leipzig: Karl-Marx-Universität.
Quellen Translatologie B-Sprache
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Bendixen, Bernd et al. (2017): Russisch aktuell / erklärt – geübt – beherrscht. Multimediale Lernsoftware. Wiesbaden: Harrassowitz
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Holz-Mänttäri, Justa (1984): Translatorisches Handeln: Theorie und Methode. Helsinki: Suomalainen Tiedeakatemia
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Koller, Werner (2011): Einführung in die Übersetzungswissenschaft. Bern: A. Francke
Krings, Hans P. (2016): Fremdsprachenlernen mit System : das große Handbuch der besten Strategien für Anfänger, Fortgeschrittene und Profis. Hamburg: Buske
Krings, Hans P. (1988): Blick in die 'Black Box': Eine Fallstudie zum Übersetzungsprozess bei Berufsübersetzern. Arntz, R. (Hrsg.)(1988): Textlinguistik und Fachsprache. Hildesheim: Georg Olms. 393-411
Krings, Hans P. (1986): Was in den Köpfen von Übersetzern vorgeht: eine empirische Untersuchung zur Struktur des Übersetzungsprozesses an fortgeschrittenen Französischlernern. Dissertation. Tübingen: Narr
Prunc, Erich (2005): „Translationsethik“. Sandrini, Peter (Hrsg.)(2005): Fluctuat nec mergitur. Translation und Gesellschaft. Festschrift für Annemarie Schmid zum 75. Geburtstag. Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Wien u. a.: Lang. 165-194
Reineke, Detlef (2005): „Softwarelokalisierungswerkzeuge“. Reineke, Detlef / Schmitz, Klaus-Dirk (Hrsg.)(2005): Einführung in die Softwarelokalisierung. Tübingen: Gunter Narr Verlag Tübingen. 73-87
Reiß, Katharina (1983): Texttyp und Uebersetzungsmethode: Der operative Text. Heidelberg: Julius Groos Verlag
Schippan, Thea (2002): Lexikologie der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen: Max Niemeyer
Schmidt, Heide (1973): Textinhalt, Stil und Übersetzung. Dissertation. Leipzig: Karl-Marx-Universität Leipzig
Латышев, Л. К. (2000): Технология перевода. Учебное пособие по подготовке переводчиков. Москва: НВИ-Тезаурус
Павлова А. В., Светозарова Н. Д. (2012): Трудности и возможности русско-немецкого и немецко-русского перевода. Sankt Petersburg: Anthology
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